John Wesley (1703-1791) und seine 
wirksamen Erneuerungs-Impulse 
											von Doris Braun
Als das „wichtigste Phänomen seines Jahrhunderts“ wurde der englische Evangelist John Wesley und die von ihm ausgelöste Erweckungsbewegung von dem Historiker Leslie Stephen bezeichnet[1] (s. Anmerkungen und Quellen am Ende des Artikels). „Eine … alles überragende Persönlichkeit, … (einen) der edelsten und heiligsten Söhne Englands“ nannte ihn die Zeitung The Spectator etwa 100 Jahre nach seinem Tod[2]. Das Blatt fährt fort: „Es mag wohl bezweifelt werden, ob in dem langen Lauf … (der) Geschichte (Englands) irgend eine einzelne Persönlichkeit das Volksleben so direkt, handgreiflich und mächtig beeinflusst hat wie John Wesley.“[3]
											John Wesley
(1703 – 1791)
Gemälde von 
William Hamilton
Wesley hat das öffentliche Leben Englands tatsächlich in vielfältiger Hinsicht „handgreiflich beeinflusst“, wie es die unten stehende Übersicht („Gesellschafts-Erneuerung durch Evangelisation“) deutlich macht. Bei allen diesen Bemühungen war es sein Lebensziel, den Menschen zu zeigen, was echtes Christentum ist, und sie dafür zu gewinnen, selbst echte Christen zu werden[4]. Diese innere Umwandlung sollte die Basis für eine Veränderung der Nation und der Kirche sein[5].
Wesleys berühmte und 
radikale Grundsätze über
Erwerb und Verwendung von Geld: 
„Erwirb so viel du kannst.
Spare so viel wie möglich.
Gib alles, was du hast.“ 
											Für dieses Ziel – Gesellschaftserneuerung durch Evangelisation – setzte John Wesley sein ganzes Leben ein: Sein streng geregelter Tagesablauf und seine vielen Predigtreisen von Ort zu Ort (insgesamt ca. 380.000 km!) ermöglichten es ihm, im Laufe seines Lebens etwa 50.000 Predigten zu halten.
											 John Wesley hat sich vor 
allem als reisender Prediger 
mit weitreichender Wirkung 
in das kollektive Gedächtnis 
der Nation eingeprägt. 
Können Erweckungen Revolutionen verhindern?
Dass Wesleys Engagement nicht vergeblich war, zeigt sich u.a. darin, welch große Bedeutung viele Historiker seinem Leben und Wirken für die Geschichte Englands beimessen. Auch die Tatsache, dass es in England zu keiner blutigen Revolution kam, wie Frankreich sie erlebte, wird von manchen Historikern auf das Wirken Wesleys und seiner methodistischen Erweckungsbewegung zurückgeführt[6]: Sie halten es für möglich, dass diese Bewegung die soziale Situation und das soziale Bewusstsein so veränderte, dass eine Revolution verhindert wurde.
											Wesleys Erneuerungs-
Konzept für die Gesellschaft:
Die innere Umwandlung 
der Menschen durch Gott 
ist die Basis für eine 
Veränderung der Gesellschaft.
Auch wenn andere Historiker bezweifeln, dass England damals ebenso vor einer Revolution gestanden habe[7], kann man doch festhalten[8]: Es ist tatsächlich dem Wirken von John Wesley zu verdanken, dass die sozialen Ungerechtigkeiten in England zu keinen größeren Unruhen führten. Die Reformbedürftigkeit des Parlaments und die katastrophalen Folgen der „industriellen Revolution“, die sozialen Spannungen und die verschiedenen Bewegungen, die sie in der damaligen englischen Gesellschaft auslösten, hätten sehr wohl harte Auseinandersetzungen und Unruhen hervorrufen können. Aber es kam anders: Ausgehend von der Erneuerung seines eigenen Lebens verhalf John Wesley dann auch seinem Land zu einer Erneuerung, deren Wurzeln die Erlösung durch Jesus Christus ist.
Was können wir heute von Wesley lernen?
Wenn man nach den Gründen für diese ungewöhnliche Wirkung fragt, die von Wesley ausging, so muss man sie in seiner eigenen kompromisslosen Hingabe an Gott und in seiner offensiven Evangelisationstätigkeit suchen. Dabei ist der Begriff „Evangelisation“ – d. h. die Verbreitung der Guten Nachricht (gr. eu-angelion) von unserer Rettung durch Jesus – umfassend zu verstehen, denn Wesley zählte auch Krankenversorgung und Gefängnisreform, Gewerkschaftsbestrebungen und den Kampf gegen den Sklavenhandel zu seinen Aufgaben.
											Der erste Versammlungsort der Methodisten in London
Ein zentrales Anliegen seiner Theologie war die konsequente und „geheiligte“ Lebensführung des Christen. Diesem Schwerpunkt entspricht das Beispiel seiner eigenen vorbildlichen Lebensweise und auch der Mut, wichtige biblische Aussagen, die unpopulär geworden und in den Kirchen vernachlässigt worden waren, neu zu thematisieren[9]. Dieser radikale Gehorsam in der Christus-Nachfolge war sicherlich die Voraussetzung dafür, dass „Gott die Wirksamkeit Wesleys derart bestätigte, daß sie im England des 18. Jahrhunderts tiefgreifende geistliche und soziale Veränderungen hinterließ und wesentlich dazu beitrug, das Land vor einer Revolution zu bewahren“ (Günter Krallmann[10]).
											Das Haus in London, in dem Wesley wohnte
											Wenn Christen erkannt haben, dass sie sich für soziale Veränderung und für Erweckung einsetzen sollen, können sie auch noch in unserer Zeit von Wesley lernen. Sein Leben und Wirken zeigt, dass eine Erweckung zuerst bei den Christen selbst beginnen muss, bevor sie weitere Kreise ziehen kann[11]. Und deshalb müssen wir Christen uns heute wie zu jeder Zeit fragen lassen, ob wir zu einem kompromisslosen Leben unter der Herrschaft Jesu Christi und zur offensiven Verkündigung des unverkürzten Evangeliums bereit sind. Wie Wesleys Vorbild zeigt, liegt in einer solchen Entschiedenheit der Schlüssel zu einem wirkungsvollen und auch gesellschaftlich relevanten Christsein.
											Wesley wollte den Menschen zeigen, 
was echtes Christentum ist, 
und sie dafür gewinnen, 
selbst echte Christen zu werden.
Gesellschafts-Erneuerung 
durch Evangelisation
Wesley nennt als Hauptmerkmal der Christen die Liebe: Wer die Liebe Gottes erlebt hat, antwortet darauf mit Liebe zu Gott und mit Liebe zu allen Menschen. Aus dieser Motivation heraus setzte Wesley sich für Verbesserungen in vielen Bereichen ein:
– Arbeitsrecht: Wesley schuf die Grundlage für die Humanisierung der industriellen Arbeitsbedingungen. Die entsprechenden Reformgesetze, die u.a. Kinderarbeit und Nachtarbeit verboten, wurden von Wesleys Freunden und Anhängern, zu denen Wilberforce[12] und Shaftesbury zählten, im Parlament eingebracht.
– Krankenversorgung: Wesley war der Pionier der kostenlosen Arzneimittelverteilung und trug durch sein Buch „Primitive Physic“ zur Verbesserung der Volksgesundheit bei.
– Kampf gegen den Sklavenhandel: Seine Überzeugungen machten ihn zu einem entschiedenen Gegner des Sklavenhandels. Damit legte er das Fundament für das spätere gesetzliche Verbot der Sklaverei[13].
– Neues Selbstbewusstsein der Arbeiter: Wesleys Botschaft von der Gleichwertigkeit aller Menschen durchbrach das konventionelle Klassendenken und ermöglichte den Arbeitern ein neues Selbstwertgefühl. Seine Ansichten über die Armut und über die Ursachen ihrer Entstehung schärften das Verständnis für sozio-ökonomische Zusammenhänge, überwanden die Vorstellung von der selbstverschuldeten Armut und machten seine Zeitgenossen auf die Notwendigkeit von Hilfeleistungen aufmerksam. Seine eigene Opferbereitschaft und die vorbildliche Selbstlosigkeit der Methodisten setzten Zeichen und waren eine Herausforderung für die Gesellschaft.
– Pädagogik: Wesleys erzieherische Bemühungen, seine Schulgründungen und die Veröffentlichung von Lehrbüchern waren Pioniertaten in der Volksbildung.
– Gewerkschaften: Aus dem Methodismus kamen die ersten Impulse für die Gewerkschaftsbewegung[14].
– Bewusstsein für soziale Verantwortung: Durch seine Aufrufe zu bescheidener Lebensführung und großzügiger Opferbereitschaft förderte Wesley das Bewusstsein für die Notwendigkeit von sozialem Engagement. Die Wirkung seiner Gedanken über die „Haushalterschaft“ der Christen („stewardship“) reichte über sein eigenes Leben hinaus.
– Gefängnis-Reformen: Durch seine Kritik an den Zuständen im Strafvollzug wirkte Wesley auf eine Reform des Gefängniswesens hin, die später durch seine Anhänger verwirklicht wurde.
– Moderne Sozialethik: „Reichtum verpflichtet!“ Wesley nahm Stellung zu Fragen der Tagespolitik, wies auf die sozialen Verpflichtungen des Reichtums hin und verurteilte den Krieg. Seine Kritik galt auch der illegalen und unsozialen Bereicherung, dem Luxus der Oberschicht und der Herstellung von billigem Alkohol mit ihren gesundheitlichen, sozialen und auch volkswirtschaftlichen Folgeproblemen.
											Wesley war 
bekannt dafür, 
dass er oft 
im Freien 
predigte.
Quellenangaben und andere Anmerkungen
1 L.Stephen, History of English Thougt in the 18th Century, London (1876) 2. Aufl. 1881, II, S. 389
2 Übersetzung zitiert nach J.L.Nuelsen, Kurzgefaßte Geschichte des Methodismus von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bremen 2. Aufl. 1929, S. 2
3 zitiert nach J.L.Nuelsen, a.a.O. (sprachlich aktualisiert)
4 The Works of John Wesley, hrsg. v. d. Wesleyan Conference Office in London (authorized edition), photomechanischer Nachdruck, Grand Rapids/Michigan 1958/59, Band V S. 174
5 The Works of John Wesley, a.a.O., Band V S. 212
6 z.B. W.E.H.Lecky (1880), J.J.Sommer (1914), J.W.E.Sommer (1930) und H.R.Flachsmeier (1957)
7 So betonen andere Historiker, z.B. M.Edwards (1939), R.M.Cameron (1961), R.E.Davies/G.Rupp (1965) und M.Marquardt (1977), dass diese These so nicht aufrechterhalten werden könne, da die politischen Verhältnisse in England ganz anderer Natur gewesen seien als in Frankreich.
8 Diese Kontroverse und meine eigene Schlussfolgerung habe ich in meiner Untersuchung der sozialen Wirksamkeit Wesleys (s. Literaturverzeichnis) dargestellt (s. v.a. S. 93ff.).
9 Hier nur einige zentrale Stichworte: „die stellvertretende Genugthuung Christi, der Satz, dass zur Seligkeit eine Wiedergeburt, Glaube und die beständige stützende Einwirkung des göttlichen Geistes auf des Glaubenden Gemüth nothwendig seien“ (W.E.H.Lecky, Geschichte Englands im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1880, II, S. 588)
10 G. Krallmann (Hrsg.), „Denn ich will Wasser ausgießen auf das dürstende Land“, Hurlach / Wuppertal und Kassel 1980, S. 11
11 Auch August Tholuck (1799-1877) geht davon aus, dass „aller Reformation der Kirche die Reformation an uns selbst vorausgehen muss“; vgl. dazu die Abhandlung von Tholuck, Alle Reformation muss im Kleinen beginnen, am eigenen Herzen und Haus, in: G. Krallmann (Hrsg.), „Denn ich will Wasser ausgießen auf das dürstende Land“, Hurlach / Wuppertal und Kassel 1980, S. 75-85
12 Die empfehlenswerte Wilberforce-Kurzbiographie von Garth Lean ist im Literaturverzeichnis genannt.
13 vgl. Garth Lean, William Wilberforce – ein mutiger Politiker mit Gewissen, in: DER AUFTRAG, Nr. 60 (Thema: Heilige Helden), S. 11
14 Von den ersten sechs Gewerkschaftsführern, die für ihr politisches Engagement den Tod fanden, waren fünf Methodisten.
Über die Autorin
											Doris Braun (1955-2024) hat sich über 30 Jahre lang im Familiendienst des Missionswerks Jugend mit einer Mission (JMEM) engagiert.
1985 war sie nach ihrem Studium an der Universität Tübingen (Theologie und Anglistik) Mitarbeiterin des JMEM-Zentrums in Hurlach (Oberbayern) geworden. Gemeinsam mit anderen Müttern und Pädagogen hat sie in den 90er Jahren das „VAA-Konzept“ für christliche Frühpädagogik („Gott kennenlernen VON ANFANG AN“) entwickelt. Sie hat VAA-Seminare in Deutschland und im Ausland gehalten; das VAA-Handbuch ist inzwischen in mehreren Sprachen erschienen.
Darüber hinaus hat Doris Braun sich in den Initiativen „Familien-Mutmach-Tag“ und „MarriageWeek – Woche der Ehepaare“ engagiert. Bis zu ihrem Tod im Alter von 68 Jahren hat sie durch ihre aktive Beratung im Familiendienst-Team des Hurlacher JMEM-Zentrums mitgearbeitet.
Sie war mit dem Theologen Rolf-Dieter Braun verheiratet und Mutter von zwei Söhnen.
Literatur
– Bockmühl, Klaus, Evangelikale Sozialethik. Der Artikel 5 der Lausanner Verpflichtung, Wuppertal 1975 (als Taschenbuch lieferbar bei Amazon, € 5,35*)
– Braun, Doris, Das Evangelium als Kraft sozialer Veränderung, dargestellt am Beispiel John Wesleys, Tübingen 1981 (unveröffentlichte Examensarbeit)
– Edwards, M., John Wesley and the 18th Century. A Study of his Social and Political Influence, London 1933
– Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Band XXII und XXIII, Berlin 1961/62
– Lean, Garth, William Wilberforce – Lehrstück christlicher Sozialreform, Gießen und Basel 1974, (als Taschenbuch lieferbar bei Amazon, € 2,73*)
– Lecky, W.E.H., Geschichte Englands im 18. Jahrhundert, Bd. I-IV, Heidelberg 1879-1883
– Marquardt, Manfred, Praxis und Prinzipien der Sozialethik John Wesleys, Göttingen 1977, (lieferbar bei Amazon, € 22,00*)
– Schmidt, Martin, John Wesley, Band I-II, Zürich/Frankfurt 1953/1966 (lieferbar bei Amazon, € 46,00*)
– Sommer, J.W.E., John Wesley und die soziale Frage, Bremen 1930
– Stephen, Leslie, English Literature and Society in the 18th Century, London (1904) 6. Aufl. 1947 (lieferbar bei Amazon; Kindle: € 1,99*, gebunden: €15,00*, Taschenbuch: € 6,35*)
– Trevelyan, G.M., Kultur- und Sozialgeschichte Englands. Ein Rückblick auf sechs Jahrhunderte von Chaucer bis Queen Victoria, Hamburg 1948  
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Weitere Literaturangaben und Originalquellen sind in der oben genannten Arbeit von Doris Braun genannt, deren Veröffentlichung im Internet geplant ist (Info-Kontakt: braun@jmem-hurlach.de).
Dieser Artikel erschien erstmals im September 1997 in der JMEM-Zeitschrift DER AUFTRAG, Nr. 64 (S. 48-49; Thema der betreffenden Ausgabe: Die Erlösung für unsere Gesellschaft).
   
